Forscher der Goethe-Universität untersuchen zusammen mit italienischen Kollegen vier 40.000 bis 70.000 alte Milchzähne
Als Grund für das Aussterben der Neanderthaler vermuten einige Forscher, dass die damaligen Mütter ihre Säuglinge lange stillten und die Säuglinge so nicht früh genug vielfältige Nährstoffe für eine Höherentwicklung des Gehirns erhielten. Ein internationales Forscherteam hat nun vier Milchzähne auf die Elemente Strontium und Calcium hin untersucht, die auch noch nach 70.000 Jahren zuverlässig Auskunft über die Ernährung der Kinder geben. Das Ergebnis: Die Mütter begannen, wie heute üblich, ihre Kinder nach fünf bis sechs Monaten abzustillen. Das Stillverhalten und die damit zusammenhängenden Geburtsintervalle spielten also keine Rolle für das Aussterben der Neanderthaler.
FRANKFURT/KENT/BOLOGNA/FERRARA. Aus Höhlen in Nordostitalien
stammen die Milchzähne, die vier Kinder vor 40.000 bis 70.000 Jahren beim
Zahnwechsel verloren hatten. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des
Frankfurt Isotope and Element Research Center (FIERCE) am Institut für
Geowissenschaften der Goethe-Universität untersuchten sie mit chemischen
Methoden. "Wir betteten die Zähne in Harz ein und schnitten sie dann in
hauchdünne Schichten - ein für solch seltene Funde äußerst ungewöhnliches
Vorgehen, zumal wir die kostbaren Proben hinterher wieder zusammensetzen
mussten“, erklärt Wolfgang Müller, Leiter der Arbeitsgruppe. Jede dieser Lagen
ist höchstens 150 Mikrometer dünn, das entspricht etwa der Dicke von zwei Blatt
Papier. Anschließend trug ein spezieller Laser das Zahnmaterial ab. Dieses
Material untersuchte Müllers Arbeitsgruppe mit moderner Massenspektrometrie auf
den Gehalt der natürlichen Elemente Strontium und Kalzium: „Beides ist in
Zähnen und Knochen enthalten“, erklärt Müller, „aber Strontium als natürliche
Unreinheit von Kalzium scheidet der Körper nach und nach aus, sodass uns das
Verhältnis von Strontium zu Kalzium (Sr/Ca) Hinweise auf die Nahrung gibt“. Bei
Muttermilch ist dieses Verhältnis anders als etwa bei Körnern, Gemüse, Fleisch
oder tierischer Milch.
Der Zahnschmelz bildet tägliche Wachstumsringe
Das Faszinierende: Jeden Tag lagert sich eine messbare Schicht
Zahnschmelz ab, sodass jeder Zahn wie die Wachstumsringe eines Baums die
Lebenstage widerspiegelt. Schon in der Zahnanlage im Ungeborenen zeigt eine
klare Linie den Tag der Geburt an, die „Neonatallinie“. Jeder weitere Lebenstag
bei gestillten Kindern ist geprägt von der Kalzium-reichen, Strontium-ärmeren
Muttermilch – oder eben mit dem Beginn des Abstillens von höheren
Konzentrationen an Strontium. Dank ihrer feinaufgelösten Methoden konnten die
Arbeitsgruppen diesen Zeitpunkt anhand der Milchzähne sehr genau auf 3,8 bis
5,3 Monate - je nach Individuum - datieren.
Zähne erzählen auf den Tag genau von Geburt und Ortswechsel
Ein Vergleich mit in den jeweiligen Höhlen gefundenen
Nagetierzähnen zeigt zudem, wie lange die Kinder oder ihre Mütter in dieser
Umgebung lebten. „Das Strontium-Isotopen-Verhältnis (87Sr/86Sr)
liefert uns Informationen über das Gestein und den Boden der Umgebung, in der
die Menschen und Nagetiere lebten“, so Müller. Die Zähne erzählen damit Lebensgeschichten:
So verbrachte eine der Mütter das Ende der Schwangerschaft sowie die ersten 25
Tage nach Geburt nicht am Fundort, denn die Isotopenzusammensetzung des
Milchzahns berichtet von einer anderen Umgebung. Diese Mutter und ihr Kind
zählen zu den modernen Menschen des Paläolithikums (40.000 Jahre) und
unterscheiden sich deutlich von den früheren Neanderthalern (50.000 Jahre) aus
derselben Höhle: Der jüngere Zahn weist – verglichen mit einem
Neanderthaler-Zahn vom selben Fundort - auf unterschiedliche Nahrung und
größere Migration in einem kälteren Klima hin. Alle drei Neanderthaler-Mütter
und -Kinder lebten hingegen die ganze Zeit in derselben Region, waren also
anders als bisher vermutet, sehr ortstreu.
Die Erkenntnisse des internationalen Forschungsteams aus
Anthropologen, Archäologen, Chemikern, Physikern und Geologen aus den
untersuchten vier Milchzähnen weisen darauf hin, dass spätes Abstillen nicht
für das Aussterben der Neanderthaler verantwortlich ist. Die täglich
angelagerten Zahnschmelzschichten ähneln chemisch jener heutiger Babys – ein
Hinweis darauf, dass die Ernährung und Entwicklung erstaunlich ähnlich
verliefen.
Publikation: Alessia Nava, Federico Lugli, Matteo Romandini, Federica Badino,
David Evans, Angela H. Helbling, Gregorio Oxilia, Simona Arrighi, Eugenio
Bortolini, Davide Delpiano, Rossella Duches, Carla Figus, Alessandra Livraghi,
Giulia Marciani, Sara Silvestrini, Anna Cipriani, Tommaso Giovanardi, Roberta
Pini, Claudio Tuniz, Federico Bernardini, Irene Dori, Alfredo Coppa, Emanuela
Cristiani, Christopher Dean, Luca Bondioli, Marco Peresani, Wolfgang Müller,
Stefano Benazzi: Early life of Neanderthals. Proceedings
of the National Academy of Sciences Oct 2020, DOI: 10.1073/pnas.2011765117
Bilder zum Download:
1. Gotta di Fumane bei Verona (Wikipedia):
Hier
wurden mehrere der Milchzähne von Neanderthaler-Kindern gefunden, die Forscher
um Prof. Wolfgang Müller an der Goethe-Universität untersucht haben.
https://de.wikipedia.org/wiki/Grotta_di_Fumane#/media/Datei:Grotta_di_Fumane_3.jpg
2. Neanderthaler-Milchzahn:
Vermutlich beim Zahnwechsel verlor ein
Neanderthaler-Kind vor 40.000 bis 70.000 Jahren diesen Milchzahn. Foto: ERC project SUCCESS, University of Bologna, Italy
http://www.uni-frankfurt.de/93639226
3. Ultradünnschnitte:
Forscher der Goethe-Universität schneiden papierdünne Scheiben von
einem Neanderthaler-Milchzahn ab. Anschließend wurden die Zähne wieder
zusammengesetzt und rekonstruiert. Standbild eines Videos: Luca Bondioli and
Alessia Nava, Rome, Italy
http://www.uni-frankfurt.de/93639334
Weitere Informationen:
Prof.
Dr. Wolfgang Müller
Institut
für Geowissenschaften /
Frankfurt
Isotope and Element Research Center (FIERCE)
Tel.
+49 (0)69 798 40291,
w.muller@em.uni-frankfurt.de
http://www.uni-frankfurt.de/49540288/Homepage-Mueller